09.11.2019

Wenn Mauern fallen - Interview mit D. Terbishdagva zum Fall der Berliner Mauer

Dendev Terbishdagva, Parlamentsabgeordneter und ehemaliger mongolischer Botschafter in Berlin, hat als einer der wenigen Ausländer in der DDR Mauerfall und Wiedervereinigung aus nächster Nähe miterlebt. In einem Interview berichtet er über seine Erlebnisse.

Als die Berliner Mauer fiel, arbeitete D. Terbishdagva an der Jugendhochschule der kommunistischen Nachwuchsorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) in Bernau bei Berlin. Er kam bereits 1975 zum Studium der Lebensmitteltechnologie nach Deutschland. 1988 kehrte er zurück in die DDR und blieb bis zum Jahr 2000 im wiedervereinigten Deutschland. Von 2002 bis 2004 war er Botschafter der Mongolei in Berlin. Niels Hegewisch, Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Mongolei, hat ihn anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls interviewt.

Was haben Sie am 9.November 1989 gemacht und wie haben Sie von dem Mauerfall erfahren?

Am 9. November 1989 war ich ganz normal bei der Arbeit an der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee in der Nähe von Berlin. Die FDJ-Jugendhochschule war eine kommunistische Ausbildungsstätte für Jugendliche aus der DDR und mehr als 60 Ländern. Dort habe ich als Dozent und Dolmetscher sozialistische Nachwuchskader mongolischer politischer Organisationen unterrichtet. An diesem Tag hatten meine Frau und ich Freunde aus der Mongolei zu Besuch. Abends schauten wir die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Dort wurde berichtet, dass das Zentralkomitee der SED beschlossen hatte, dass man von nun frei in Richtung Westdeutschland und West-Berlin reisen könne. Westliche Fernsehsender sprachen gar davon, dass die Mauer nun geöffnet sei. Wir konnten kaum glauben, was wir hörten.

Doch wir empfanden nicht nur Freude. Anfangs sorgten wir uns, denn die Teilung der Welt war für uns eine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit und die Berliner Mauer deren betongewordenes Symbol. Waren alle Spannungen nun verschwunden? Wie würde es in der DDR weitergehen? Was machte die Sowjetunion? Drohte am Ende Gewalt?

Die innere Unruhe, die ich und meine Frau bereits seit den Montagsdemonstrationen in der ganzen DDR verspürt hatten, war nur schwer auszuhalten. Am Ende überwog allerdings die Neugier und wir machten uns wie Tausende andere auch auf den Weg zur Mauer im Herzen Berlins. Bereits in der S-Bahn herrschte eine ausgelassene Stimmung. Als wir an der Mauer ankamen, sahen wir Feuerwerk und feiernde Menschen. Wir konnten in der Menschenmenge nicht bis zur Grenze vordringen. Wir hätten uns als Ausländer in der DDR auch nicht getraut, die Grenze zu überschreiten. Später am Abend fuhren wir wieder zurück. Ich musste viel an die Mongolei denken. Wie würden die Neuigkeiten aus Deutschland dort aufgenommen werden? Was würde aus dem zwischen Russland und China gelegenen sowjetischen Satellitenstaat werden?

Als es in den nächsten Tagen friedlich blieb und im Dezember das Brandenburger Tor feierlich geöffnet wurde, wich auch unsere Anspannung. Ich hatte mir immer gedacht, dass eine Mauer, die quer durch Familien verläuft und ein Volk zerteilt, keinen dauerhaften Bestand haben könnte. Aber ich hatte nicht zu glauben gewagt, dass es so bald und in solch rasender Geschwindigkeit passierte. Aus einem fernen Land gekommen, war ich Augenzeuge, wie sich Ost und West, Kapitalismus und Sozialismus friedlich vereinten.

Ich hatte mir immer gedacht, dass eine Mauer, die quer durch Familien verläuft und ein Volk zerteilt, keinen dauerhaften Bestand haben könnte. Aber ich hatte nicht zu glauben gewagt, dass es so bald und in solch rasender Geschwindigkeit passierte.

Einige Tage später fuhren wir mit unseren Kindern zur Mauer, um uns ein Mauerstück als Andenken zu sichern. Ich verfügte nur über einen kleinen Hammer und es stellte sich als außerordentlich schwierig heraus, mit diesem ungeeigneten Werkzeug ein Mauerstück zu ergattern. Das Einzige, was ich herausbrach, waren Betonbrösel. Es gelang mir schließlich mit viel Anstrengung doch noch, ein größeres Stück aus der Mauer herauszubrechen. Dieses wickelte ich nach mongolischer Tradition in einen blauen Seidenschal und besitze es noch heute. Ich bewahre dieses Stück Berliner Mauer nach buddhistischer Tradition in meiner Gebetsstelle in unserem Gästezimmer auf. Es erinnert mich daran, dafür zu beten, dass es niemals wieder eine Mauer gebe, die ein ganzes Volk teilt, und dass die Menschen miteinander in Harmonie leben.

Wie war die Stimmung bei den deutschen und internationalen Studenten und Dozenten in Ihrer Schule nach dem Mauerfall?

Die FDJ-Jugendhochschule war eine kommunistische Kaderschmiede. Schon vor dem Mauerfall, als in Leipzig und anderswo die Menschen auf die Straße gingen, änderte sich das Klima. Man spürte, dass sich etwas zusammenbraute, dass es nicht mehr lange so weitergehen konnte. Nach dem Mauerfall machte sich im Kollegium große Verunsicherung breit. Für viele brach eine Welt zusammen. Sie hatten an den Sozialismus und dessen Überlegenheit geglaubt. Sie waren Anhänger der DDR und des SED-Staats. Die sich abzeichnende Wiedervereinigung mit einem übermächtigen Westdeutschland war ihnen ein Graus. Fast alle machten sich Sorgen um ihre Zukunft. Ich hatte den Eindruck, dass eigentlich niemand eine schnelle Wiedervereinigung wünschte. Bevorzugt wurde eine enge Kooperation der beiden deutschen Staaten und eine Wiedervereinigung irgendwann in ferner Zukunft. Dabei spielten grundsätzliche, aber auch ganz persönliche Überlegungen eine Rolle. Denn wer würde in einem wiedervereinigten Deutschland noch Experten für wissenschaftlichen Kommunismus oder Dozenten für DDR-Geschichte benötigen? Der geistigen Elite des SED-Staats drohte ein tiefer Fall in die Arbeitslosigkeit.

Für viele brach eine Welt zusammen. Sie hatten an den Sozialismus und dessen Überlegenheit geglaubt. Sie waren Anhänger der DDR und des SED-Staats. Die sich abzeichnende Wiedervereinigung mit einem übermächtigen Westdeutschland war ihnen ein Graus. Fast alle machten sich Sorgen um ihre Zukunft.

Manch einer versank deshalb in Depression und Alkoholismus. Andere erschienen einfach nicht mehr zur Arbeit. Ich erkannte vieler meiner Kollegen nicht mehr wieder. Noch vor Kurzen hatten sie Zuversicht ausgestrahlt und waren voller Vertrauen in die Wissenschaft vom Kommunismus. Alles, woran sie ihr ganzes Leben lang geglaubt hatten, war auf den Kopf gestellt worden. Im Rückblick würde ich sagen, dass der Zusammenbruch einer Ordnung, an die man trotz mancher Kritik im tiefsten Inneren stets geglaubt hatte, schwerer wog, als der Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen.

Der Unterricht ging jedoch zunächst weiter. Erst im Frühjahr 1990 wurde unsere Schule geschlossen. Unmittelbar nach dem Mauerfall wurde im Unterricht offen und kritisch diskutiert. Die Zeiten, in denen die Partei und der Staat ausschließlich in den höchsten Tönen gelobt wurden, waren vorbei. Die Studenten überhäuften die Dozenten mit Fragen, auf die diese keine Antwort wussten und oft verunsichert auswichen.

Sie waren schon als mongolischer Student in der DDR. Welchen Eindruck machte das Land damals auf Sie?

Für die besten Schüler eines Jahrgangs gab es in der damals sozialistischen Mongolei die Möglichkeit, im befreundeten Ausland zu studieren. Und so bekam ich als einfaches Nomadenkind vom Land die Möglichkeit, an eine Universität der sozialistischen Länder zu gehen. Mich interessierte Deutschland. Die DDR galt als das am höchsten entwickelte Land der sozialistischen Welt und ich malte sie mir in den schillerndsten Farben aus. Das wollte ich mit eigenen Augen sehen, studieren und viel lernen. Und so studierte ich an der Humboldt-Universität zu Berlin Lebensmitteltechnologie. Ich wandelte damit auf den Spuren der ersten Mongolen, die bereits in den 1920er Jahren als Studenten nach Deutschland kamen, um dort zu lernen, wie sie in der Mongolei ein erfolgreiches Bildungssystem aufbauen könnten.

Die Reise von Ulaanbaatar nach Leipzig, wo ich am Herder-Institut zunächst Deutsch lernen sollte, erfolgte mit dem Zug und war beschwerlich. Auf dem Weg machten wir Station in Moskau und ich war vom Glanz und der Pracht im Zentrum der sowjetischen Hauptstadt buchstäblich erschlagen. Wie grau war es hingegen in Deutschland! Als Kind vom Land war ich den blauen Himmel, die glühend rote Sonne und einen klaren Sternenhimmel gewöhnt. Nichts davon fand ich bei meiner Ankunft in der DDR vor. Stattdessen war der Himmel wolkenverhangen, es nebelte und über der ganzen Stadt schien ein einziger Grauschleier zu liegen. Selbst die Menschen erschienen mir grau und waren eintönig gekleidet. Wo war ich nur gelandet? Würde hier jemals die Sonne scheinen?

Doch ich lebte mich schnell und gut ein. In meiner Studentenzeit schloss ich viele Freundschaften, die bis heute andauern. Ich habe in Deutschland meine Frau kennengelernt, eine Familie gegründet und unsere Kinder großgezogen. Heute sehe ich Deutschland als meine zweite Heimat.

Wie haben Sie die Zeit der Wiedervereinigung erlebt?

Die Jahre nach dem Mauerfall im November 1989 und der offiziellen Wiedervereinigung 1990 waren eine aufregende Zeit. Als Außenstehender kam es mir damals so vor, dass der Westen die Richtung vorgab. Man fragte nicht, was in der DDR vielleicht gut gelaufen war, sondern stellte alles unter den Verdacht der kommunistischen Indoktrination. Meine ostdeutschen Kollegen und Freunde hatten teils große Probleme, sich in der neuen Ordnung zurecht zu finden. Es gab damals das verbreitete Gefühl, Ostdeutsche seien Bürger zweiter Klasse.

Auch im Leben unserer Familie bedeutete die Wiedervereinigung einen tiefen Einschnitt. Meine Frau und ich verloren unsere Arbeitsplätze und mussten uns in einer völlig neuen Welt fast buchstäblich von heute auf morgen neu orientieren. Das war nicht einfach und außerhalb unserer Vorstellungskraft. Denn weder in der Mongolei noch der DDR hatte es bis dahin Arbeitslosigkeit gegeben. Immerhin erhielten wir von den DDR-Behörden noch eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Wir setzten darauf, dass es mit einem wiedervereinigten Deutschland wirtschaftlich schnell bergauf gehen werde. Außerdem dachten wir an unsere Kinder, die sich in Deutschland gut eingelebt hatten. Und wir waren natürlich sehr neugierig auf die neue Gesellschaft, die sich zu formieren begann. Also entschieden wir uns, in Deutschland zu bleiben.

Meine ostdeutschen Kollegen und Freunde hatten teils große Probleme, sich in der neuen Ordnung zurecht zu finden. Es gab damals das verbreitete Gefühl, Ostdeutsche seien Bürger zweiter Klasse.

Von der FDJ-Jugendhochschule erhielten wir als Abfindung drei Monatsgehälter. Nachdem ich eine Weile als Kellner und für das Ausländeramt der Stadt Bernau gearbeitet hatte, begannen meine Frau und ich in der Nachwendezeit mit dem Export von Waren aus Deutschland in die Mongolei. Die Restbestände der aus Ostdeutschland abziehenden Roten Armee ließen sich in der Mongolei gut verkaufen. Begehrt waren vor allem die Stiefel der sowjetischen Soldaten und der Nationalen Volksarmee der DDR. Diese Stiefel nutzten die mongolischen Nomaden gerne als Reitstiefel. Später haben wir dann den ersten Supermarkt in der Mongolei eröffnet, in dem wir unter anderem Lebensmittel, Haushaltswaren, Kosmetikprodukte, Schuhe und Bekleidung aus Deutschland verkauften. Daraus hat sich ein bis heute gut laufendes Geschäft entwickelt. Die Erfahrungen der Wendezeit waren für uns in der Mongolei von Vorteil. Denn das, was unseren Landsleuten noch bevorstand, die Transformation vom Staatssozialismus zur freien Marktwirtschaft, hatten wir ja bereits in Deutschland durchlebt. Von den Erfahrungen der Wendezeit habe ich mein gesamtes politisches und geschäftliches Leben profitiert.

Welchen Blick haben Sie heute auf das wiedervereinigte Deutschland?

Bei allen anhaltenden Schwierigkeiten des Wiedervereinigungsprozesses sehe ich ihn dennoch als Erfolgsgeschichte. Die beiden Teile Deutschlands sind gut zusammengewachsen, auch wenn sicherlich noch nicht alle Probleme gelöst sind. Ich bin aber optimistisch, dass den Deutschen dies gelingen wird. Deutschlands Wiedervereinigung war für die Mongolei auch ein Vorbild. 1990 schafften wir mit unserer eigenen friedlichen Revolution den Übergang vom Sozialismus zur Demokratie. Von Deutschland können wir auch den Umgang mit einer schwierigen Vergangenheit lernen. In den 1930er Jahren wurden in der Mongolei im Namen der kommunistischen Ideologie über 30.000 unschuldige Bürger, darunter Intellektuelle, Mönche und Beamte, kaltblütig ermordet und mehr als 700 buddhistische Tempel zerstört. Damals wurde die Gewalt ohne Hemmungen und ohne Grenzen ausgeübt. Sie hat in vielen Familien Wunden geschlagen, die bis heute nicht ausgeheilt sind. Diese innere Mauer ist auch heute noch nicht vollständig niedergerissen. Auch daran erinnert uns das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls.

Das wiedervereinigte Deutschland ist ein guter Freund der Mongolei geworden. Die Beziehungen beider Länder sind eng und intensiv. Interessierten sich Anfang der 1990er Jahre nur wenige für das kleine, zwischen Russland und China gelegene Land, so ist die Mongolei heute der größte Pro-Kopf-Empfänger deutscher Mittel für Entwicklungszusammenarbeit. Für das große Interesse Deutschlands, von dem eine Vielzahl wirtschaftlicher, kultureller und politischer Kooperationen zeugen, bin ich sehr dankbar.

 

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